Feminismus im Appenzellerland?

Die Beschäftigung mit Feminismus in den USA führte mich zur Frage: Wie sieht’s denn hier aus, im Appenzellerland?

Es ist bekannt, dass die Appenzellerinnen sehr unrühmlich die letzten Schweizer Frauen waren, die in ihren Halbkantonen das Stimm- und Wahlrecht erhielten. Erst seit knapp 30 Jahren ist den Appenzellerinnen in amtlichen und politischen Geschäften die Mitsprache gänzlich erlaubt.

In Amerika wurde das Frauenwahlrecht 1920 in der Verfassung verankert – wofür notabene bereits in den 1840er Jahren eine erste breite Bewegung entstand. Ein halbes Jahrhundert nach den USA führte 1971 auch die Schweiz das Frauenstimm- und wahlrecht ein. Auf eidgenössischer Ebene. Auf kommunaler und kantonaler Ebene hatten im Appenzellerland nach wie vor nur die Männer das Sagen. In diese Welt wurde ich 1974 geboren. In meiner Heimat engagierten sich ein paar gerechtigkeitsbewusste Menschen für das Frauenstimm- und Wahlrecht auf kommunaler und kantonaler Ebene.

Als ich 15 Jahre alt war, 1989, wurde endlich auch in meinem Wohnkanton Appenzell Ausserrhoden das Frauenstimm- und wahlrecht auf kantonaler Ebene eingeführt. Damit war Appenzell Ausserrhoden der zweitletzte Kanton in der Schweiz, in dem Frauen auf allen Ebenen (eidgenössisch, kantonal und kommunal) politisieren durften. Als letzter Kanton folgte 1990 Appenzell Innerrhoden unter Zwang. Dazu weiter unten. Bis 1990 war die kantonale Volksabstimmung – die Landsgemeinde – der beiden Appenzeller Halbkantone jahrhundertelang nur Männern vorbehalten. Diese jährliche Zusammenkunft wurde von vielen Appenzeller Männern als ihr Tag betrachtet, als Männertag. Wählen und Abstimmen war Ehrensache. Auch der Degen, der anstelle des Stimmausweises die Teilnahme an der Landsgemeinde erlaubte.

Mein Vater hatte keinen Degen, dafür einen Stimmausweis. Mangels Parkplätze vor Ort war der Landsgemeindesonntag auch ein Wander- und Fahrradtag. Die stimmberechtigten Männer wanderten oder radelten in kleinen Gruppen nach Hundwil, oder alternierend nach Trogen, wo die Schar auf dem Dorfplatz zusammentraf. Es gab einen als Ring bezeichneten Bereich, wo sich die Stimmberechtigten einzufinden hatten. Ausserhalb des Rings standen die Schaulustigen. Darunter auch Frauen. Meine Mama war nie dabei. Der Landsgemeindetag war ein Männertag. Papa kam in der Regel spät nach Hause. Immer lustig – und zünftig alkoholisiert. Entlang der Wanderstrecke gab es viele Gasthäuser. Das Appenzellerland ist bekannt für die grosse Dichte an Beizen … Da hatten Frauen nichts verloren. Ist ja klar. Viele Gegner des Frauenstimm- und wahlrechts wehrten sich vermutlich weniger wegen des Einbezugs von Frauen in die politischen Geschäfte, als vielmehr wegen der dann in Frage gestellten Zecherei mit Kollegen vor und nach des politischen Akts.

Alle Geselligkeit in Ehren – Frauen müssen mitbestimmen dürfen, fand eine zunehmende Anzahl von Frauen und Männern. Die Form der Stimmabgabe per physischer Zusammenkunft sei nicht mehr zeitgemäss. Elisabeth Pletscher, Aline Auer, Marianne Kleiner oder auch Ida Schläpfer (Kunstfigur von H.R. Fricker), diverse andere Frauenrechtsaktivist:innen und Organisationen haben sich über Jahre für das Frauenstimmrecht eingesetzt. Es brauchte viel Ausdauer: Die stimmberechtigten Männer haben sich zwischen 1970 und 1984 fünf Mal gegen das Frauenstimmrecht ausgesprochen. 1972 wurde zwar die Möglichkeit des Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene gutgeheissen, das kantonale Stimmrecht aber gleichzeitig abgelehnt. Erst 1989 (beim 6. Mal) gelingt der historische Volksentscheid an der Landsgemeinde in Hundwil.

Landsgemeinde in Hundwil 1989. Das Frauenstimmrecht wird angenommen.
Bild: Herbert Maeder
Die Frauenrechtlerin Elisabeth Pletscher an der 1. Landsgemeinde in Trogen 1990, an der auch Frauen teilnehmen dürfen. Bild: Privatarchiv Elisabeth Pletscher
Landsgemeinde in Hundwil 1995. Zum 6. Mal sind Frauen als Stimmberechtigte dabei. Zwei Jahre später wurde die Landsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden abgeschafft. Bild: Keystone

Als 18-Jährige, und damit Stimmberechtigte, durfte ich 1993 zum ersten Mal selber an einer Landsgemeinde teilnehmen. Zusammen mit Freund:innen wanderte ich zur Versammlung, wo per Handzeichen über die kantonalen Geschäfte abgestimmt wurde. Es war ein ehrfürchtiges und emotionales Ereignis, bei dem Demokratie physisch erlebbar war. Zu Beginn wurde das Landsgemeindelied gesungen. Das war definitiv ein Gänsehautmoment. Die ganze Menge formte sich zum Chor. „Alles Leben strömt aus dir …“ sang auch ich. Dann wurden die Tagesgeschäfte vom Landamann vorgetragen. Noch immer höre ich den Landweibel ins Mikrofon schreien: „Wem’s wohl gfallt, der erhebe die Hand!“ Einzelne Empörte gab es, die gegenteiliger Meinung waren und riefen: „Abe, abe!“ („Nimm‘ die Hand runter!“) Sozialer Druck war später entsprechend eines der Argumente zur Aufhebung der Landsgemeinde. Zudem konnte der Stimm- und Wahlprozess je nach Anzahl der Geschäfte und Unklarheit der Ergebnisse, die zu Wahlwiederholungen führten, Stunden dauern. Auch das Wetter (pralle Sonne oder Regen) sorgte bisweilen für körperliche Strapazen. Weiter war der gegebene Platz zu gering für alle Stimmberechtigen des Kantons bei ca. 52’200 Einwohner:innen im Jahr 1990. In summa war diese Praxis, die ältere, behinderte oder zeitlich verhinderte Personen von einer Stimmabgabe ausschloss, Anlass genug, die Landsgemeinde abzuschaffen. Die letzte Landsgemeinde von Appenzell Ausserrhoden fand am 27. April 1997 in Hundwil statt. Fortan wurden und werden die Stimmen für sämtliche Geschäfte (kommunal, kantonal und eidgenössisch) via Stimmzettel gesammelt.

Doch zurück zur Einführung des Frauenstimmrechst 1989 in Appenzell Ausserrhoden. Das Schweizer Fernsehen berichtete:

https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/der-lange-kampf-der-ausserrhoder-frauen-fuer-das-stimmrecht?urn=urn:srf:video:502ce940-f5e1-43fd-9537-0b51a0fa2b18

Während in Appenzell Ausserrhoden der Landammann Hans Höhener, der sich für das Frauenstimmrecht einsetzte, Morddrohungen erhielt, war es in Appenzell Innerrhoden eine Frau.

Theresia Rohner ist Mitte dreißig, hat einen Töpferladen und lebt mit Mann und zwei kleinen Töchtern in Appenzell. Sie beschliesst 1989, für ihr Recht einzutreten: Im Vorfeld zur Landsgemeinde von 1989 reicht Theresia Rohner ein Gesuch an die Standeskommission (Kantonsrat Appenzell Innerrhoden), um aktiv an der Landsgemeinde in Appenzell teilnehmen zu dürfen. Ihr Gesuch wird zwei Wochen vor der Landsgemeinde abgelehnt. Rohner wendet sich nun ans Bundesgericht. Dieses fordert die Standeskommission auf, an der nächsten Landsgemeinde vom 29. April 1990 erneut über das Frauenstimmrecht zu entscheiden.

Aber auch an der Landsgemeinde 1990 stimmen die Innerrhoder Männer noch immer mehrheitlich gegen das Frauenstimmrecht. Übrigens gab es auch erstaunlich viele konservative, bis dato nicht-stimmberechtigte Frauen, die sich gegen das Frauenstimmrecht aussprachen. Die Frauenumfrage zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Kirche und Schule von 1969 endete mit 55,43 % Nein-Stimmen und 44,57 % Ja-Stimmen. Wie auch immer. Zwanzig Jahre nach diesem Stimmungsbild wurde an der Landsgemeinde erneut NEIN gestimmt. In der Folge werden beim Bundesgericht drei staatsrechtliche Beschwerden eingereicht: eine von Theresia Rohner, eine weitere von 53 Innerrhoder Frauen und noch eine von 49 im Kanton wohnhaften Männern.

Am 27.11.1990 entscheidet schliesslich das Schweizer Bundesgericht über die Einführung des Frauenstimmrechts in Appenzell Innerrhoden. Die Innerrhoder Frauen seien stimmberechtigt, weil: «Wer den Frauen das Stimmrecht verweigert, verstösst gegen die Bundesverfassung.»

Das Bundesgericht argumentiert also mit der seit 1981 in der Bundesverfassung verankerten Gleichstellung der Geschlechter. Damit wird auch die umstrittenen Begriffe Landleute und Schweizer in der Innerrhoder Kantonsverfassung neu ausgelegt. Auch Frauen seien als mit allen Rechten ausgestattete Bürgerinnen zu betrachten und zu den Stimmbürgern zu zählen, denn die Bezeichnung Leuteumfasse im gewöhnlichen Sprachgebrauch Männer und Frauen. Es sei das grundrechtliche Gleichheitsgebot zu respektieren. Die verfassungskonforme Auslegung bedeute demnach, dass auch den Frauen die politischen Rechte zustehen.

Theresa Rohner nach dem historischen Entscheid vor dem Bundesgericht. Foto: Jean Guy Phyton

Einige der nun aber zur Einführung des Frauenstimmrechts gezwungenen Innerrhoder Männer sind dermassen wütend über diesen Entscheid, dass sie die Initiatorin Theresa Rohner anonym belästigen und bedrohen. Sie und ihre Familie werden in der Folge unter Polizeischutz gestellt!

Theresa Rohner wird mit anonymen Anrufen belästigt, unangenehme, bedrohliche. […] Die Gegner des Frauenstimmrechts argumentieren mit dem kantonalen Recht. Darin heisse es «Landleute und Schweizer» dürfen abstimmen. Damit seien keine Frauen gemeint.

Schweizer Fernsehen SRF, Franz Kasperski, 27.11.2014

Das Argument, mit Landleute und Schweizer seien keine Frauen gemeint, bringt trotz Beschluss und Argumentation des Bundesgerichts eine Frau, die sich für das Grundrecht einsetzt, in Bedrängnis. Das ist frappant. An diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig gendergerechte Sprache ist. Gendergerechte Sprache bezeichnet einen Sprachgebrauch, der in Bezug auf Personenbezeichnungen die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und darüber hinaus aller Geschlechter zum Ziel hat und die Gleichstellung der Geschlechter in gesprochener und geschriebener Sprache zum Ausdruck bringen will.Der Fall Frauenstimmrecht Appenzell Innerrhoden ist eigentlich ein sprachspezifischer Gender-Fall!

Wer also mit Schweizer auch die Schweizerin meint, soll das benennen. Ansonsten droht ein Ausschluss einer Menschengruppe. Wird Frau ausgeschlossen, ist etwa die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen. Es ist ein Ausschluss, der während mehrerer Generationen zur einseitigen Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens führt(e), in denen weisse Männer mit ihren Körpern, Werten und Denkweisen die Gesetze, den Städtebau, die Forschung etc. – unseren Alltag – bestimm(t)en. Und um es beim Namen zu nennen: Dieses Gesellschaftssystem heisst Patriarchat.

Hm – zum Nachdenken:

Während in den 1970er Jahren in den USA zahlreiche feministischen Initiativen entstanden, über die ich während meiner Recherchereise zu Lucy R. Lippard berichtete, wurde im Appenzellerland noch um das Frauenstimm- und wahlrecht gekämpft. Meine Beschäftigung zur späten Einführung dieses Grundrechts in meiner Heimat führte neben dem vertieften Verständnis für demokratische Prozesse und patriarchale Gesellschaftsstrukturen auch zur Erkenntnis der Wichtigkeit von gendergerechter Sprache. In Appenzell Innerrhoden brauchte es die mutige Theresia Rohner, die für ihr Recht einstand, wofür sie Beleidigungen und Morddrohungen erhielt. Sie verliess schliesslich den Kanton.

2020, also 30 Jahre nach dem historischen Bundesgerichtsentscheid und dem wohl ersten Genderfall in der Schweizer Justiz mit weitreichenden Folgen, nahm ich Kontakt mit Theresia Rohner auf. Das Telefonat erfolgte im Rahmen einer Recherche für meinen Ausstellungsbeitrag in der Kunsthalle Appenzell (APP’N’CELL NOW). Sie erzählte mir, dass sie zum 30-Jahre-Frauenstimmrecht-Jubiläum als Gastrednerin an die Landsgemeinde eingeladen worden wäre. Wäre. Die Landsgemeinde wurde wegen Corona nicht durchgeführt. Rohner hätte die Einladung aber ohnehin ausgeschlagen – sie erhielt prompt einen anonymen Telefonanruf mit einer Drohung …

Weiterführende und vertiefende Links:

https://www.srf.ch/news/frauenstimmrecht-ar-es-war-ein-grossartiger-moment

https://www.srf.ch/kultur/der-archivar-es-bestand-kein-grund-mehr-frauen-das-wahlrecht-zu-verweigern

https://www.nau.ch/politik/international/vor-30-jahren-wurden-appenzell-ausserrhodens-frauen-politisch-mundig-65516310

https://de.wikipedia.org/wiki/Theresia_Rohner

https://www.ai.ch/themen/kultur-und-geschichte/archiv/materialien-zum-frauenstimmrecht-in-appenzell-innerrhoden/literatur/ftw-simplelayout-filelistingblock/caduff-frauenstimmrecht-2013.pdf

https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/frauenstimmrecht-eine-frau-gegen-den-kanton-wie-eine-appenzellerin-dem-frauenstimmrecht-in-innerrhoden-vor-30-jahren-zum-durchbruch-verhilft

https://www.letemps.ch/en-images/images-long-combat-femmes-legalite

Autor: K.K.Buhler

Ich bin Karin Karinna Bühler, eine Schweizer Künstlerin und Informationswissenschaftlerin, auf der Suche nach Haltung in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft.

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