Lucy R. Lippard

INTERVIEW MIT LUCY R. LIPPARD

Lucy Lippard, ihr Buch „Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 72“ war Auslöser für meine Recherchereise in die USA. Zu Beginn meines dreimonatigen Aufenthalts besuchte ich die Archives of American Art (AAA) in Washington DC, wo ich unter anderem Ihre Korrespondenz aus den Jahren 1960-1990 einsehen konnte. In New York führte ich Gespräche mit den Kuratorinen Catherine Morris und Amy Smith-Stewart, die beide eine Ausstellung realisierten, die jeweils auf sie zurückgeht. Und zu guter Letzt – wenngleich aufgrund eines positiven Covid-Tests nur sehr kurz – habe ich Sie persönlich an Ihrem Wohnort in New Mexico getroffen.

Sie sind als Autorin, Kunstkritikerin, Kuratorin und Aktivistin bekannt. Seit 1966 haben Sie über zwanzig Bücher veröffentlicht und über fünfzig Ausstellungen kuratiert. In Ihren Schriften haben Sie erstmals die Position einer Entmaterialisierung der Kunst, insbesondere in der Konzeptkunst, skizziert. Sie gehören zudem zur frühen Avantgarde der feministischen Kunst.

Die Entmaterialisierung des Kunstwerks und die Einbeziehung von Künstlerinnen in Ausstellungen haben entscheidend dazu beigetragen, den herkömmlichen Begriff des Kunstwerks zu entmystifizieren. Es wurde versucht, die verrottenen Strukturen des Kunstmarktes und den patriarchalischen Mainstream aufzubrechen und Alternativen dazu zu finden. Wenn Sie sich heute, ein halbes Jahrhundert später, die Kunstwelt anschauen: Sind die verrottenen Strukturen und der patriarchalische Mainstream aufgebrochen worden? Welche Errungenschaften haben sich bis heute durchgesetzt? Welche sind wieder verloren gegangen?

Ich habe nicht mehr viel mit der Kunstwelt zu tun, aber die patriarchalische Fäulnis ist schlimmer geworden, als wir es uns vorstellen konnten. Viele Kämpfe, von denen wir dachten, wir hätten sie gewonnen (allen voran die reproduktiven Rechte, aber auch die Grausamkeit der Reaktionen auf die Einwanderung, die Ungleichheit auf breiter Front und die fehlende Waffenkontrolle), haben wir nun wieder verloren. Die schwache Reaktion auf das Klimachaos ist vielleicht am wichtigsten. Ich schreibe oft über ökologische Themen.

Mit großem Vergnügen sichtete ich im AAA Ihre Korrespondenz, Notizen zu Vorträgen, Entwürfe für Artikel. Das Material gab einen Einblick in Ihr enormes Beziehungsgeflecht und offenbarte mir gleichzeitig Ihre kritische und neugierige Art. Sie waren mit den frühen Konzeptkünstlern befreundet und haben den Begriff Konzeptkunst mehrfach diskutiert (siehe Blogbeitrag). Sol Lewitts Aussage in einem Gespräch mit Ihnen (1969) hat mich erstaunt, denn er sagte: „Konzeptkünstler sind eher Mystiker als Rationalisten.“ Sie ziehen Schlüsse, die die Logik nicht erreichen kann. Bis dahin dachte ich, dass es in der Konzeptkunst mehr um Rationalität als um Mystik oder Intuition geht. Welche Bedeutung messen Sie der Mystik, der Intuition in der Konzeptkunst bei?

Ich denke nicht über Mystik nach, und ich glaube, Sol wollte damit sagen, dass Konzeptkunst nicht völlig rational sein muss.

Buchcover von Six Years

In Ihrem bahnbrechenden Buch Six Years: The Dematerialization of the Art Object von 1966 bis 1972 haben Sie einen Zeitraum von sechs Jahren dokumentiert und beschrieben, in dem sich neue Kunstgattungen herausbildeten. Das Buch zeigt die Anfänge der Konzeptkunst, der Performance, der Land Art und anderer, spricht von Ideenkunst, ephemerer und entmaterialisierter Kunst, konzeptueller Kunst. Alles war noch im Entstehen begriffen. Es war eine Zeit des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels, der sich auch in der bildenden Kunst manifestierte. Das Buch hat mich total fasziniert – ich habe darin meine eigenen künstlerischen Wurzeln gefunden. Vor fünfzig Jahren kam Ihr Buch Six Years heraus. Und es hat nicht nur mich inspiriert, sondern war vor 10 Jahren auch Gegenstand einer Ausstellung im Sackler Center. Ich habe mich kürzlich mit Catherine Morris, der Ko-Kuratorin der Ausstellung Materializing Six Years, unterhalten (siehe Interview). Außerdem würde ich gerne von Ihnen erfahren, was Sie an dieser Ausstellung besonders oder weniger gelungen fanden?

Ich war mit der Ausstellung im Brooklyn Museum sehr zufrieden, obwohl es sehr viel zu lesen gab. Angesichts der Art der Bewegung ließ sich das nicht vermeiden. Catherine hat großartige Arbeit geleistet.

Die Ausstellung 52 Artists: A Feminist Milestone läuft derzeit (bis am 23. Januar 2023) im Aldrich Contemporary Art Museum. 52 Artists liegt Ihre Ausstellung aus dem Jahr 1971 zugrunde, in der Sie 26 Künstlerinnen aus New York am selben Ort zeigten, um Künstlerinnen Sichtbarkeit zu verschaffen. Auch mit der Co-Kuratorin Amy Smith-Stewart habe ich ein Gespräch geführt (siehe Interview). Sie war für die Auswahl von Werken intersektionaler feministischer Künstlerinnen des 21. Jahrhunderts verantwortlich, die sie den ursprünglichen Positionen gegenüberstellte. Was gefällt Ihnen an dieser Zusammenstellung? Wo sehen Sie auch Probleme, wenn überhaupt?

Ich habe weder die Ausstellung noch den Katalog gesehen und kann mich daher nicht richtig dazu äußern. Ich hätte die neue Ausstellung gerne gesehen, aber die Reise hat nicht geklappt. Die Bilder der Installation sehen großartig aus. In der Ausstellung von 1971 waren nur drei farbige Frauen vertreten, und das hat sich durch die aktuellen Ergänzungen stark verbessert. Das ist etwas, das sich seit meinen Ausstellungen in den 70er Jahren entschieden verändert hat.

In Ihrem 1976 erschienenen Buch From the Center beschreiben Sie Ihr wachsendes feministisches Bewusstsein dafür, dass wir uns selbst erkennen und bereit sein müssen, uns zu verändern, bevor wir in größerem Maßstab wirksam werden können. Ich selbst sehe mich als Künstlerin, die mit einem kritischen Blick über gesellschaftliche Strukturen nachdenkt, auf jeden Fall mit einem feministischen Blick auf die Welt. Aber mit der Bezeichnung als Feministin tue ich mich schwer und ich versuche herauszufinden, warum das so ist. Wie stehen Sie heute zum Feminismus? Hat sich Ihre Haltung im Laufe der Zeit geändert?

Nein. Feminismus prägt alles, was ich tue. Es macht mir Sorgen, wenn Frauen sich nicht als Feministinnen bezeichnen wollen. Sie kommen zu mir und sagen, sie seien starke Frauen und stünden für sich selbst ein. Aber Feministinnen setzen sich für alle Frauen ein. 

Sie haben feministische Bücher (From the Center, The Pink Glass Swan) und verschiedene Artikel zu Kunst und Politik geschrieben und sich auch in verschiedenen feministischen Initiativen als Gründungsmitglied oder in verschiedenen Gruppen überhaupt aktiv engagiert. Als ich die Initiativen in einem Blogbeitrag zusammenstellte, wurde mir klar, dass zum Beispiel die heute vielerorts ausgewogene Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern in Museen auf solche Initiativen zurückzuführen ist. Was waren in Ihren Augen weitere wichtige Errungenschaften oder welche müssen noch eingelöst werden?

Außerdem habe ich vor Jahren ein Buch über politische Kunst, einschließlich Feminismus, mit dem Titel Get the Message? Ein Jahrzehnt der Kunst für den sozialen Wandel. Ich würde kaum sagen, dass ein Gleichgewicht erreicht worden ist. Die Fortschritte für Frauen sind offensichtlich, aber es gibt noch viel zu tun. Frauen werden für ihre Arbeit viel schlechter bezahlt, und meine Generation musste warten, bis sie 70 oder 80 Jahre alt war, um wirklich erfolgreich zu sein – oder die Künstlerinnen sind tot.

Seit den 1990er Jahren leben Sie in Galisteo, New Mexico, abseits der Kunstmetropolen. In Ihren jüngsten Publikationen werfen Sie einen historischen und ökologischen Blick auf Ihre Umgebung in New Mexico. Fließt Ihr feministisch geschärfter Blick auch in Ihre aktuellen Projekte ein? Oder sind Konzeptkunst und Feminismus für Sie heute tempi passati?

Ich bin vor dreißig Jahren nach New Mexico gekommen (mein erster Besuch war 1972), um der Kunstwelt zu entkommen, obwohl ich immer noch Ausstellungen kuratiere. Künstlerbücher sind nach wie vor eine Möglichkeit, zu reagieren, die relativ entmaterialisiert ist. Mein Feminismus und mein politischer Aktivismus fließen in alles ein, was ich tue. So gebe ich seit 26 Jahren ein monatliches Mitteilungsblatt für die Gemeinde meines kleinen Dorfes heraus und bin Mitglied des Planungsausschusses, der Feuerwehr und der Wasserbehörde. In den letzten dreißig Jahren habe ich mich auf den Ort (Buch The Lure of the Local) und die lokale Geschichte (zwei Bücher über das Galisteo-Becken und den Text für ein Buch über den Chaco Canyon) konzentriert. So wie sich die Welt verändert, so verändert sich auch die Arbeit, die wir zu tun haben.


Lucy Lippard

Lucy R. Lippard ist Autorin des Buchs Six Years: The Dematerialization of the Art Object und damit Auslöserin für meine Artist-in-Residence in den USA.

Die Kunstkritikerin, Kuratorin, Autorin und Aktivistin (*1937) lebt in Galisteo, New Mexico – und ist meine Heldin.

Foto: Gabriela Campos/The New Mexican

Autor: K.K.Buhler

Ich bin Karin Karinna Bühler, eine Schweizer Künstlerin und Informationswissenschaftlerin, auf der Suche nach Haltung in unserer patriarchal geprägten Gesellschaft.

2 Gedanken zu „Lucy R. Lippard“

  1. Hi Karinna
    Endlich bin ich bei deinem blog gelandet. Was für ein Geschenk!
    The Center Elizabeth Sackler for FA, und das grossartige Video von Judy Chicago sind umwerfend spannend.
    Und was für ein wunderschönes Porträt von deiner Heldin L.L.!
    Vielen Dank – Ich freu mich schon auf die weiteren Reisebegegnungen…Luce

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